Ständig lockt das Fleisch - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Für Grillgut im Sommer muss stets gesorgt sein. So lässt sich ein Argument für die weitere Zulassung von Leiharbeit in Zeiten von „Auftragsspitzen“ zusammenfassen. Aufgekommen war die Debatte über Arbeitsbedingungen in der Fleischbranche nach dem Corona-Ausbruch im größten Werk des Tönnies-Konzerns. Wer noch einen Beleg für den Stellenwert von Fleisch suchte, konnte ihn in dem Verweis auf die Grillsaison finden. Gebraucht hätte es ihn nicht.

Fleisch ist in den verschiedensten Formen omnipräsent in Deutschland – ob in Kantinen, Supermärkten, Restaurants, als schnelle Mahlzeit auf die Hand, Wurstscheibe im Brötchen oder bloß als Speckwürfel auf der Käse-Laugenstange oder im Kartoffelsalat. Wer Fleisch essen will, der wird es in den allermeisten Fällen schnell, einfach und günstig bekommen. Und das wollen nach wie vor sehr viele.

„In unseren Essgewohnheiten tragen wir ein kulturelles Erbe mit uns“

Der durchschnittliche Fleischkonsum pro Kopf beträgt seit Jahren etwa 60 Kilogramm und sinkt nur minimal. Der vorläufige Wert für das Jahr 2020 – 57,3 Kilogramm – ist auf Grund der vielfältigen Einschränkungen durch die Pandemie mit Vorsicht zu genießen.

Fachleute empfehlen seit Jahren allein schon aus Rücksicht auf die eigene Gesundheit, weniger Fleisch zu essen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung plädiert für maximal 30 Kilogramm im Jahr. Die internationale EAT Lancet Kommission empfiehlt höchstens 15 Kilogramm. Auch die Auswirkungen des großen Fleischhungers auf Umwelt und Klima werden seit Jahren thematisiert.

Seien es Waldrodungen für den Futtermittelanbau, die Nitratbelastung der Böden, der Methan-Ausstoß von Rindern oder der hohe Wasserverbrauch der Fleischindustrie – die Liste der ökologischen Nachteile ist lang. Inzwischen bezeichnen sich zwar laut der jährlichen Allensbacher Marktanalyse 6,5 Millionen Deutsche als Vegetarier und 1,1 Millionen als Veganer. Beide Werte lagen im Jahr 2015 noch bei 5,3 Millionen respektive 800.000 Personen. Der ganz große Veggie-Boom sieht dann aber doch anders aus.

Verdrängung wird Verbrauchern leicht gemacht

Gunther Hirschfelder wundert das nicht. „In unseren Essgewohnheiten tragen wir ein kulturelles Erbe mit uns“, sagt der Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Hirschfelder hat einst selbst Agrarwissenschaft studiert und beschäftigt sich schon lange mit dem Thema Fleischkonsum.

„Menschen essen so, dass sie ihre gesellschaftliche Vergangenheit gewöhnlich mit einpreisen“, führt er aus: „Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren alle Gesellschaften Mangelgesellschaften, die vor allem unter Protein- und Fettmangel litten. Der Fleischkonsum war Indikator für den gesellschaftlichen und ökonomischen Rang, den ein Individuum einnahm – deshalb hat Fleisch diese besondere Wertigkeit.“

Mit der Industrialisierung sei Fleisch dann sukzessive demokratisiert worden. „Im späten 19. Jahrhundert war der Fleischkonsum pro Kopf fast so hoch wie heute, und nach den beiden Weltkriegen spielte die Fleischversorgung eine ganz große Rolle“, so Hirschfelder. „Die Politik wusste damals: Ich kriege die Leute nur zufrieden, wenn sie Fleisch zum Essen haben. Unsere Fleischpraxen und Narrative docken bis heute hieran an.“

Gleichwohl sei schon in den 1970er-Jahren zusehends das Thema Tierschutz in den Fokus gerückt – gerade mit Blick auf die Haltungsbedingungen in der zunehmend industriellen Fleischproduktion.

„Debatten über Fleischkonsum sind vorrangig Elitendiskurse“

Auch heute schaut sich wohl kaum ein Verbraucher gern Bilder aus riesigen Ställen an, in denen massenhaft Tiere ohne Tageslicht eng an eng zusammengepfercht sind und schnell zur Schlachtreife gemästet werden. Das Töten und Verarbeiten findet natürlich längst größtenteils in abgeschotteten Fabrikhallen statt. Auch Riesenställe stehen gewöhnlich abseits von bewohntem Gebiet.

Wer dort nicht arbeitet, muss von den Zuständen auch nichts mitbekommen. Zwar weiß jeder oder kann es sich denken, dass günstiges Fleisch trotzdem einen hohen Preis hat. Doch sieht man dem Steak in der Auslage die Lebensbedingungen der Tiere meist nicht an. Die Verdrängung wird den Verbrauchern leicht gemacht – falls sie das Thema Tierwohl denn überhaupt interessiert.

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„Die Debatten über Fleischkonsum und Tierwohl sind vorrangig Elitendiskurse“, sagt Gunter Hirschfelder. „Wir sehen jetzt besonders bei jüngeren Leuten aus höheren Bildungs- und Einkommensschichten einen Paradigmenwechsel, was Fleisch angeht, aber gleichzeitig eine große Fleischbeliebtheit bei Menschen, die etwa aus dem arabischen, afrikanischen oder osteuropäischen Raum kommen.

Letztere schätzen es sehr, dass sie vor allem sicheres Fleisch günstig kaufen können, und haben oft entweder selbst Mangelerfahrungen gemacht oder diese sind durch die Familie noch präsent.“ Dazu komme: „Viele Menschen stehen unter einem derart großen psychosozialen Stress durch ihre Lebensumstände, die haben schlichtweg keinen Nerv dafür, sich über ihren Fleischkonsum Gedanken zu machen. Auch eine beträchtliche Zahl jener, die diesen Stress nicht haben, sieht grundsätzlich kein Problem in einem hohen Fleischkonsum.“

„Wir müssen Fleischverbrauch reduzieren“

Für Deutschland wie auch Mitteleuropa sei dennoch klar: Auf Dauer gehe es so nicht weiter. „Wir müssen aus moralischen und ethischen Gründen sowie mit Blick auf die Umwelt unseren Fleischverbrauch reduzieren“, unterstreicht Hirschfelder. Wie aber kann ein Weg dahin bereitet werden?

Jenseits der kulturellen Komponente lockt Fleisch zusätzlich mit seinem würzigen Umami-Geschmack oder reichlich schnell verfügbarem Eiweiß. Obwohl eine Welt aus Vegetariern Klima und Umwelt guttun würde, ist diese Aussicht äußerst unrealistisch. Natürlich ist es vernünftig, wenn der Chef des Umweltbundesamts appelliert, möglichst weniger Fleisch, aber dafür teureres aus besserer Haltung zu essen.

Auch ist längst klar, dass der Verzicht auf die tägliche Fleischportion weder Hexenwerk noch Drama ist und auch keinen Nährstoffmangel hervorruft. In einer liberalen Demokratie darf aber bekanntlich ein jeder trotzdem fast alles essen, was und wie er möchte.

Umfragen legen derweil regelmäßig nahe, dass Anregungen wie die des Umweltbundesamts durchaus auf fruchtbaren Boden fallen. Eine große Anzahl der Verbraucher zeigt sich hier gern bereit, höhere Preise für bessere Haltungsbedingungen zu zahlen. Nur spiegelt sich dieses Bekenntnis im tatsächlichen Einkaufsverhalten kaum wider.

Umfragen bilden Meinungsbild oft nicht adäquat ab

Das liegt mitnichten bloß daran, dass Verbraucher auf dem Weg zur Kasse ihren guten Vorsatz massenhaft vergessen und der Verlockung der Schnäppchen-Preise erliegen, sagt Ulrich Enneking: „Umfragen bergen gerade bei der Frage nach dem Tierwohl das Problem der sozialen Erwünschtheit“, so der Professor für Agrarmarketing an der Hochschule Osnabrück. Daher bildeten sie hier das tatsächliche Meinungsbild der Bevölkerung meist nicht adäquat ab. Wer gibt schon gern zu, dass ihm das Schicksal der Tiere herzlich egal ist?

„Teilnehmende Beobachtungen oder Experimente sind da immer der bessere Weg, etwa indem man Verbraucher in einer natürlichen Kaufumgebung zwischen verschiedenen Produkten – mit und ohne Tierwohllabel – wählen lässt“, erklärt er. In diesen Varianten zeige sich dann auch eine „deutlich geringere Mehrpreisbereitschaft“.

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Enneking ist der Frage Ende 2018 in einer Studie selbst nachgegangen. Neun Wochen lang wurde in jeweils neun Edeka- und Discounter-Märkten das Einkaufsverhalten mit Blick auf verpackte Schweinefleischprodukte aus drei verschiedenen Klassen beobachtet: die billige Eigenmarke, eine Biolinie und ein neu eingeführtes Angebot mit Tierwohl-Label, das preislich dazwischen positioniert war.

Die Auswertung der mehr als 18.000 Käufe zeigte später, dass im Schnitt nur 16 Prozent der Käufer zu dem neuen Tierwohl-Produkt griffen. Auch eine Neupositionierung mit weiteren Informationen zum Siegel im Lauf der Testphase habe kaum etwas verändert, heißt es in der Studie.

„Allein auf die Macht des Verbrauchers zu setzen, ist zu viel verlangt“

Auf einem Flyer, ausgelegt neben der Fleischtruhe mit den drei Produktgruppen, wurde beispielsweise angeführt, dass die Schweine mindestens 10 Prozent mehr Platz gegenüber dem nicht näher definierten Mindeststandard hatten. Während sich noch 11 Prozent für das Bioprodukt entschieden, kaufte die deutliche Mehrheit also weiterhin die billigere, konventionelle Ware ohne Siegel. Bei den ebenfalls durchgeführten Umfragen im Kassenbereich standen Tierwohl-Artikel dagegen höher im Kurs.

„Vielleicht die Hälfte der Verbraucher sieht wirklich ein Problem in der aktuellen Form der industriellen Tierhaltung“, sagt Enneking. „Das heißt aber nicht, dass diese Gruppe auch automatisch dazu bereit ist, einen deutlichen Preisaufschlag für bessere Bedingungen zu akzeptieren.“ Neben rein finanziellen Aspekten spielt bei der Entscheidung eben auch wieder das Thema Verdrängung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zumal sich der Vorsatz, weniger Fleisch zu essen oder nur noch solches aus besserer Haltung, bequem in die Zukunft verschieben lässt.

Forscher Enneking sieht noch ein weiteres Problem: Ein Tierwohl-Label einzuführen sei schön und gut. Nur wenn der Verbraucher das Mehr an Tierwohl dahinter nicht erkenne, sondern bloß der Preis erhöht werde, greife eben kaum wer zu. Erst kürzlich hatte Lidl beispielsweise den Preis für zehn Schweinefleisch-Produkte um einen Euro das Kilo angehoben.

Die Mehreinnahmen sollten an die Landwirte weitergegeben werden. Nach knapp zwei Monaten war die Preiserhöhung schon wieder Geschichte: Der Markt sei dem Signal nicht gefolgt und es sei ein „erheblicher Wettbewerbsnachteil“ entstanden. Die Kunden haben also nicht mitgezogen.

Das Dilemma der Branche

„Es bräuchte ein in der Breite bekanntes Tierwohl-Label wie etwa das EU-Bio-Siegel, um mehr Leute anzusprechen“, sagt Enneking. „Mit dem EU-Biosiegel verbinden viele zwar einen höheren Standard, allerdings ist selbst dann eine beträchtliche Zahl an Verbrauchern nicht bereit, den höheren Preis für Produkte mit EU-Biostandard zu zahlen.“ Das zeige auch der geringe Marktanteil von Bio-fleisch: Dieser wächst zwar, doch keine Art kommt auf einen Anteil am Gesamtmarkt, der höher als fünf Prozent liegt. „Ein niedrigschwelligeres Angebot muss daher die Gruppe an Verbrauchern mitnehmen, die zwar eine Offenheit für das Thema Tierwohl hat, es aber nicht priorisiert“, empfiehlt Enneking.

Das Beispiel Lidl unterstreicht das Dilemma der Branche: Die gesamte Wertschöpfungskette in der konventionellen Fleischproduktion bis hin zum Handel sei sehr stark preisgetrieben, erklärt Enneking: „Innerhalb der Branche wird da von allein kaum jemand die Initiative für mehr Tierwohl verbunden mit etwas höheren Preisen ergreifen.“

Für den Agrarmarketing-Professor ist klar: „Allein auf die Macht des Verbrauchers zu setzen ist zu viel verlangt angesichts der undurchsichtigen Lage, wie viel Tierwohl denn nun in konventionellen Produkten steckt. Insofern ist hier der Staat gefordert – etwa mittels einer verpflichtenden Tierwohlabgabe, aus deren Geldern dann zum Beispiel Mittel für Stall-Umbauten bereitgestellt werden.“

Genau das empfiehlt die 2019 vom Bundeslandwirtschaftsministerium eingesetzte „Borchert-Kommission“. Fleisch und Wurst sollen 40 Cent mehr je Kilogramm kosten. Jeder Verbraucher müsste – geringe Aufschläge für Milch- und Milchprodukte ebenfalls berücksichtigt – so rund 35 Euro im Jahr mehr zahlen. 3,6 Milliarden Euro könnten in jedem Jahr damit zusammenkommen.

„Entscheidend ist, dass wir das System global verändern“

Lob für die Vorschläge kommt sogar vom Bio-Dachverband BÖLW. Dieser plädiert allerdings für eine „mengenbezogene Abgabe“, da ein prozentualer Aufschlag bei der Mehrwertsteuer besonders den Preis der ohnehin schon teureren Produkte aus besserer Biohaltung nach oben treiben würde. Noch ist in dieser Frage keine Entscheidung gefallen. Bundesagrarministerin Julia Klöckner erklärte Anfang Mai, sie sei offen für beide Varianten.

„Die Politik muss bessere Rahmenbedingungen schaffen etwa in Form einer Tierwohlabgabe, auch eine CO2-Abgabe für Fleischprodukte wäre denkbar, und Umweltfolgekosten der Fleischproduktion könnten eingepreist werden“, sagt Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder. „Sollte die wirtschaftliche Lage stabil bleiben, werden wir allerdings wohl ohnehin sukzessive von dem größtenteils nachlässigen Fleischkonsum runterkommen, da wir schon in einigen Teilen der Bevölkerung ein stärkeres Bewusstsein für das Thema haben und sich dieses weiterträgt.“

Die große Herausforderung liege anderswo: „Entscheidend ist, dass wir das System global verändern, denn in vielen Entwicklungsländern wächst der Hunger nach Fleisch mit zunehmendem Wohlstand weiterhin. Die Bereitschaft, auf Fleisch zu verzichten, ist oft erst dann gegeben, wenn man sich genug leisten kann.“

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