Nicht nur ein Stück vom Kuchen - nd - Journalismus von links

Eric Carle (1929 – 2021)
Eric Carle (1929 – 2021)

Mit den kleinen Patschehändchen in die Löcher reingefingert, welches Kind hätte sich dieses haptische Vergnügen nehmen lassen? Die Rede ist von der begeisterten Leserschaft des Kinderbuchklassikers »Die kleine Raupe Nimmersatt«. Die frisst sich bekanntlich durch allerlei Köstlichkeiten: ein Apfel, zwei Birnen, drei Pflaumen, vier Erdbeeren, fünf Orangen, dann kommen noch Torte, Lolli, saure Gurken, Eis, Melone und weiteres.

Wer nun aus kleinbürgerlich-protestantischem Reflex denkt, dieses nimmersatte, verfressene Ding solle doch für solche Unmäßigkeit bestraft werden, indem es am Ende platzt oder elendig zugrunde geht - eine Pointe, wie aus dem didaktischen Gruselkabinett der Gebrüder Grimm, bürgerliche Verächter des Genusses und des Proletariats -, geht völlig fehl. Im Gegenteil: Der Lohn der Verfressenheit und die Folge davon, alles zu wollen, ist die Verwandlung in einen wunderschönen Schmetterling. Die kleine Raupe Nimmersatt, niemals hätte sie nur ein Stück vom Kuchen gewollt. Alles oder nichts. Sie ist das Sinnbild der Revolution: Es sieht vielleicht nicht immer gut aus, aber am Ende wird alles gut.

Nun ist der Schöpfer der kleinen Raupe Nimmersatt, Eric Carle, am 23. Mai in Northampton (USA) im Alter von 91 Jahren gestorben, wie Ende vergangener Woche bekannt wurde. Carle erfand zwar beispielsweise auch den kleinen Käfer Immerfrech, doch die kleine Raupe Nimmersatt war sein Durchbruch und auch größer Erfolg. Erstmals 1969 veröffentlicht, soll sich das Buch mit den ausgestanzten Löchern in den Seiten bis heute über 170 Millionen Mal verkauft haben. Und wer auch immer das zweifelhafte Vergnügen hatte, in den vergangenen Jahren einmal die Kinderbuchabteilung einer größeren Buchhandlung zu besuchen, konnte erstaunt feststellen, dass nicht nur verschiedenste Ausgaben dieses Buches (Pappe, Papier, Stoff, zum Ausmalen …) zum Verkauf stehen, sondern auch Kleine-Raupe-Nimmersatt-Kuscheltiere, -Sitzwürfel oder -Plastikspielzeug für die Badewanne. Die Vermarktung des Revoluzzergewürms ist geradezu grenzenlos.

Der 1929 geborene Carle war der Sohn deutscher Eltern, die in die USA auswanderten. In seiner Kindheit kehrten sie mit ihm nach Stuttgart zurück, die Schulzeit in der unmittelbaren Nachkriegsbundesrepublik erinnerte Carle als grausam, brutal und dunkel. Über Grafik und Werbung kam er zu Kinderbüchern. Sein zweites war »Die kleine Raupe Nimmersatt«, es folgten noch nahezu 70 weitere - ohne dass diese an den großen Erfolg anknüpfen konnten. Carle hatte es auch nicht nötig, er konnte davon leben. In den USA, wo er lebte, richtete er ein Museum für Kinderbücher ein, unter anderem mit seinen eigenen Werken. »Halb Spielzeug, halb Buch« sollten sie sein, sagte er einmal. Zahlreiche kleine Kinderpfötchen auf Erkundungsreise dankten es ihm und werden es wohl weiter tun. Wie die Revolution lebt auch die Raupe weiter, frisst sich durch die Welt - bis sie Flügel bekommt und davonflattert. Hunger auf die Welt zu haben ist eine Tugend, die erhebt. Nur wer alles Irdische will, dem wird auch der Himmel zugänglich werden. Hasta Siempre, Comandante Carle!

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