Frühmenschen: Fleisch war nicht ihr Gemüse - Archäologie spricht gegen Fleisch als Triebkraft für die Menschheitsentwicklung - scinexx.de - scinexx | Das Wissensmagazin

Einer gängigen Hypothese nach verlieh erst das Fleischessen unseren Vorfahren die Energie für ein größeres Gehirn und den Sprung zum Frühmenschen. Doch das widerlegt nun eine Neuanalyse archäologischer Funde aus Ostafrika. Demnach ist der vermeintlich zunehmende Anteil von tierischer Kost nur eine Folge ungleicher Funddichte: Weil vom Homo erectus weit mehr Relikte gefunden und gezielt ausgegraben wurden, ist über seine Ernährung schlicht mehr bekannt.

Vor rund zwei Millionen Jahren machten unsere Vorfahren eine großen Entwicklungssprung – aus noch relativ affenähnlichen Vormenschen wie dem Australopithecus gingen die ersten Frühmenschen hervor – Angehörige unserer Gattung Homo. Sie besaßen ein deutlich größeres Gehirn, fortgeschrittene geistige und technische Fähigkeiten und waren mit dem Homo erectus die erste Menschenart, die Afrika verließ.

Schnittspuren
Schnittspuren in einem 1,5 Millionen Jahre alten Tierknochen aus Kenia. © Briana Pobiner

Entwicklungsschub durch die Ernährung?

Doch was verlieh diesen Frühmenschen ihren Entwicklungsschub? Schon länger vermuten Anthropologen, dass ein Wandel der Ernährung dafür eine wichtige Rolle gespielt haben könnte. Denn sie bestimmt, wie viel Energie für das Gehirn zur Verfügung steht und wie effizient die Nährstoffe bei der Verdauung verwertet werden können.

Einer Hypothese nach sorgte die Erfindung des Feuers und des Kochens für den nötigen Energieschub: Weil gegarte Speisen besser verdaulich sind, liefern sie mehr Energie als Rohkost – und das könnte dem Homo erectus die Entwicklung seines größeren Gehirns ermöglicht haben. Alternativ vermuten einige Forscher, dass erst der Wechsel zu einer fleischlastigeren Ernährung die Frühmenschen voranbrachte.

Fossile Belege auf dem Prüfstand

Tatsächlich scheinen archäologische Funde diese „Erst Fleisch machte uns menschlich“-Hypothese zu stützen: Tierknochen mit Schnittspuren und andere Relikte urzeitlicher Schlachtungen wurden besonders oft an Fundstätten des Homo erectus entdeckt. „Generationen von Paläoanthropologen sind an Orte wie die berühmte Olduvai-Schlucht gereist und haben dort Belege für den Fleischverzehr dieser Frühmenschen gesucht und gefunden“, sagt Erstautor Andrew Barr von der George Washington University in Washington DC.

Das Problem jedoch: Die fossilen Zeugnisse unserer Vorfahren sind dünn gesät und weder räumlich noch zeitlich gleichmäßig verteilt. Für Barr und sein Team stellte sich daher die Frage, ob die bisher bekannten Funde überhaupt ausreichen, um einen solchen Wandel der Essengewohnheiten zu belegen. Um dies zu überprüfen, haben sie archäologische Relikte aus neun Fundregionen in Ostafrika und 59 zwischen 2,6 und 1,2 Millionen Jahre alten Fundschichten überprüft.

Trend zu mehr Fleisch nicht ersichtlich

Die Analysen ergaben: Die Häufung von Tierknochen und anderen Indizien für tierische Kost ab der Zeit vor rund zwei Millionen Jahren geht weniger auf die tatsächliche Ernährung unserer Vorfahren zurück als vielmehr auf die ungleiche Verteilung der Funde. So ist die Zeit vor 2,6 bis 1,9 Millionen Jahren stark unterrepräsentiert – es gibt kaum fossile Belege für Hominiden und ihre Ernährung aus dieser Zeit. Aus der Folgephase gibt es dafür umso mehr Funde.

„Wenn man die Fleisch-Hypothese anhand dieser Daten quantitativ auswertet, dann beginnt sich die Erzählung vom Fleisch als ‚Menschenmacher‘ aufzulösen“, sagt Barr. Denn in der Zeit des Homo erectus finden sich dann nicht mehr modifizierte Tierknochen in den Funden als vorher. Auch ein durchgängiger Trend hin zu einer fleischlastigeren Ernährung lasse sich dann nicht mehr feststellen, so das Team.

„Ich habe mehr als 20 Jahre lang Tierknochen mit Schnittspuren ausgewertet und untersucht, aber unsere aktuellen Ergebnisse sind trotzdem eine große Überraschung für mich“, sagt Koautorin Briana Pobiner vom Smithsonian National Museum of Natural History in Washington DC. „Die Studie verändert unser Verständnis darüber, was zooarchäologische Funde uns über das prähistorische Fleischessen verraten können.“

Alternative Erklärungen gesucht

Nach Ansicht des Forschungsteams legen die Ergebnisse nahe, dass die Fleisch-Hypothese auf sehr schwachen Füßen steht und zumindest anhand der bisherigen Funde nicht belegbar ist. „Die Tatsache, dass es keine überzeugende Zunahme tierischer Kost mit dem Homo erectus gegeben hat, deutet daraufhin, dass alternative Erklärungen für seine fortgeschritten Merkmale nötig sind“, konstatieren Barr und seine Kollegen.

Möglicherweise war es demnach doch eher die Nutzung des Feuers und der Verzehr gegarter Speisen, die unseren Vorfahren mehr Energie verlieh. Auch Veränderungen in der Sozialstruktur – beispielsweise durch eine wachsende Rolle von Großeltern, könnte dem Homo erectus Vorteile verschafft haben. Bisher allerdings haben alle diese Hypothesen eines gemeinsam: Es fehlt an fossilen Belegen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2022; doi: 10.1073/pnas.2115540119)

Quelle: George Washington University

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